Solange der ÖPNV nicht nutzerorientiert gestaltet ist, wird er nicht zur Verkehrswende beitragen. Doch wie könnte ein ÖPNV 2.0 aussehen und welche Rolle spielen darin digitale Technologien? Die Entstehung von Plattformen wie Uber, Sixt oder Googlemaps hat gezeigt, dass datengetriebene Dienste eine wichtige Innovation darstellen, um den öffentlichen Verkehr stärker an den Bedürfnissen der Kunden und Kundinnen zu orientieren. Wenngleich das Geschäftsmodell von diesen Dienstleistern auf vielen Ebenen abzulehnen ist, so kann Digitalisierung zu einer Reformierung der skandalösen Zustände des ÖPNV im Sinne einer guten Mobilität als Teil der Daseinsvorsorge beitragen.
Aus dem ersten Teil kennen wir sie schon: Meine beiden Tanten, für die der bestehende ÖPNV kein Angebot zu offerieren vermag, die kein Auto haben, aber auch Busse und Bahnen nicht erreichen können. Was sie aber sehr wohl haben — und das haben sie mit 51% der über 70-jährigen in Deutschland gemeinsam, ist ein Smartphone, auch wenn sie beileibe keine digital natives sind.
Stellen wir uns einmal vor, sie könnten einfach die App des Verkehrsbetreibers öffnen, per Schaltfläche oder Spracheingabe einen Transport für — sagen wir 14 Uhr — bestellen und das Ziel angeben, z.B. die Physiotherapiepraxis im Nachbarort. Die App würde den Auftrag bestätigen, evtl. noch nach besonderen Bedürfnissen wie Einstieghilfe oder Gepäcktransport fragen. Zur fraglichen Zeit fände sich ein Fahrzeug vor der Haustür ein — das kann ein Taxi sein oder ein Kleinbus, mit oder ohne Fahrerin, allein oder gemeinsam mit anderen Fahrgästen, langsam oder schnell. Wenn sie Hilfe beim Einsteigen, beim Tragen oder dergleichen benötigt, kann sie das vorab mitteilen bzw. das ist sowieso gespeichert. Das Ganze noch zu einem vernünftigen Tarif.
Wenn ÖPNV so funktionieren würde, dann würden die Ladies womöglich ganz schnell zu leidenschaftlichen ÖPNV-Nutzerinnen werden! So könnte ein Angebot aussehen, das für die beiden eine Revolution bedeuten würde, sie wären wieder jederzeit mobil, nicht mehr auf andere angewiesen. Das Ganze ließe sich natürlich auch ohne Smartphone realisieren. Warum sind solche Mobilitätsangebote im Jahr 2021 nicht gang und gäbe? Ist es nicht die Aufgabe der öffentlichen Verkehrsträger, mobile Daseinsvorsorge anzubieten, und zwar für alle?
Ein jedes Mal, wenn die Vorteile von digitalen Tickets, digitaler Fahrpläne usw. debattiert werden, kommt das Argument: Wir wollen nicht diejenigen ausschließen, die kein Smartphone haben. Das ist richtig und wichtig, sollte aber nicht dazu führen, jegliche Innovation außen vor zu lassen. Denn oft findet Diskriminierung ganz analog statt. Was sie diskriminiert, ist nicht eine digitale Schnittstelle, die sie von der Nutzung ausschließt, sondern schlicht das Fehlen eines brauchbaren Angebots.
Dass dieses fiktive Beispiel so nach Science Fiction anmutet und keine Selbstverständlichkeit ist, unterstreicht nur, wie rückschrittlich der öffentliche Verkehr immer noch ist, diese Welt aus Fahrplänen, Routen, Transportgefäßen und weiteren Erfindungen aus der Anfangszeit des letzten Jahrhunderts. Denn, wie der renommierte US-amerikanische Verkehrsforscher Dan Sperling, Direktor und Mitbegründer des Instituts für Verkehrsstudien an der Universität Davis (Kalifornien) feststellt, im ÖPNV gab es „in 50 Jahren keine Innovation auf Systemebene — bis vor etwa zehn Jahren Plattformen wie Uber das Spielfeld betraten“.
Das Neue an Uber war dabei nicht der Transport á la dereguliertes Taxi durch Privatpersonen, sondern die Organisation des Dienstes auf einer digitalen Plattform. Die Ablehnung vieler Aspekte von Ubers Geschäftsmodell — Preispoker zur Profitmaximierung, Ausbeutung der Fahrerinnen und Fahrer, Wild West-Methoden bei der Expansion, das Ignorieren von Gesetzen und Vorschrift — sollte uns nicht davonabhalten, die entscheidende Innovation zu sehen: Ein datengetriebener Dienst, der eine Herausforderung darstellt für den klassischen ÖPNV und letztendlich Teil dessen Zukunft sein sollte — in einer hoffentlich öffentlich betriebenen, staatlich regulierten und an gesellschaftlichen Zielen ausgerichteten Variante.
In Falkensee in der Nähe von Berlin startete im Juni 2020 eine dreimonatige Testphase für eine Art Nachbarschaftstaxi, den App-basierten Service “Der Falkenseer”. Der Betreiber warb: „Für einen Festpreis von 5 Euro kannst du ab sofort Fahrten von jeder Adresse in Falkensee zu den Bahnhöfen Falkensee, Finkenkrug und Seegefeld und wieder zurück über die Uber App buchen.“ Genau solche Zubringerdienste werden seit Jahren immer wieder von den öffentlichen Verkehrsbetrieben gefordert, um auch außerhalb der Großstädte eine tatsächliche Alternative zum Privat-PKW anzubieten! Rund 3000 Fahrten wurden in den drei Monaten in Falkensee vermittelt. Seit September läuft das Projekt im Normalbetrieb, die Fahrten kosten jetzt allerdings 8 Euro pro Fahrt. Der Anbieter dieser Mobilitätsdienstleistung: Uber.
Das Beispiel zeigt, dass es Handlungsbedarf gibt. Diese Neuerungen sind nicht die Kannibalisierung des ÖPNV, sie müssen zur Grundlage eines neuen ÖPNV 2.0 werden! Und tatsächlich beginnt sich der ÖPNV auch zu bewegen. Unter dem Namen „OnDemand-Verkehr“ entstehen im öffentlichen Sektor neue flexible Angebote, die digitale Buchungsmöglichkeiten nutzen, Algorithmen für die Fahrtenplanung verwenden. Eine Übersicht über solche Projekte in NRW findet sich hier.
Für einen guten, modernen öffentlichen Verkehr braucht es viel mehr als nur Digitalisierung — insbesondere eine neue Nutzerzentriertheit und den tatsächlichen Willen, eine Alternative zum Auto für Alle zu schaffen, die Herausforderung durch Uber usw. tatsächlich anzunehmen statt ihr auszuweichen. Das ist derzeit nicht absehbar — aus vielen Gründen (siehe Teil 1). Digitalisierung ist bei weitem nicht alles, aber es gibt Bereiche, in denen sie einen großen Unterschied machen kann:
Erstens die Generierung von Aufenthalts- und Reisequalität durch die Verarbeitung von Echtzeitdaten: Wenn an der Bushaltestelle eine digitale Anzeige darüber informiert, wann welcher Bus als nächstes kommt, wird das Warten nicht kürzer, aber die Qualität des Services steigt ungemein — Ich kann besser kalkulieren, frage mich nicht, ob sie schon gefahren ist, weiß im Voraus welche Linie als nächstes kommt usw.
Zweitens das Angebot digitaler integrierter Services: Die größte Innovation im Schienenverkehr der letzten Jahrzehnte hat nichts mit Schienen, Loks oder Geschwindigkeit zu tun. Es ist die Möglichkeit, digital Tickets zu kaufen, auf Papiertickets verzichten zu können, Zahlungen bargeldlos abwickeln zu können, jederzeit (Fahrplan)Auskünfte zu erhalten, Reisen buchen zu können, während der Fahrt in Echtzeit informiert zu sein und nicht zuletzt, im Netz surfen zu können!
Öffentliche Verkehrsunternehmen haben zwar teilweise das Potenzial von Daten erkannt, und entwickeln daraus Angebote. Mit der Freigabe dieser Daten sieht es allerdings oft schlecht aus. Ebenso wie die Bahn weigern sich viele kommunale Unternehmen, selbst ihre Fahrpläne freizugeben, aus Angst, dass Andere mit diesen Daten Geld verdienen, indem sie z.B. Apps und Websites mit diesen Daten betreiben. So verbleiben sie oft ungenutzt in Silos, die Fahrgäste haben das Nachsehen. Der Verkehrswissenschaftler Robin Tech: „Es gibt zwei Hauptgründe, warum es (noch) nicht die eine Mobilitätsplattform gibt. Es geht einmal um die Datenhoheit. Denn nur, wer die Mobilitätsdaten hat, verdient Geld. So zumindest der Gedanke vieler Anbieter, die zu vergessen scheinen, dass die wenigsten überhaupt etwas aus diesen Daten machen“. Anstatt die Daten aus Angst verrotten zu lassen und die Verknüpfung den Privaten zu überlassen, sollten wir beginnen, sie als öffentliche Güter zu verstehen und sie für die Organisation eines ÖPNV 2.0 nutzen. Die neuen Verkehrsmittel und Angebote carsharing, ridesharing, nicht Sixt, Uber und Google überlassen.
Es ist eine Aufgabe für uns alle, dem ÖPNV dazu zu verhelfen — regulatorisch, politisch, aber auch vom mindset her — diese Aufgaben in Zukunft meistern zu können. Statt notdürftige Grundversorgung für die Armen, Alten und all diejenigen, die nicht am „richtigen“ — sprich privaten motorisierten Individualverkehr teilnehmen können, muss der öffentliche Verkehr zu einer attraktiven bevorzugten Option für die Mehrheit werden. Der ÖPNV — wie er bis dato existiert — vermag das kaum zu leisten. Damit der ÖPNV eine attraktive Option darstellt, muss er aus der analogen, kleinstaatlichen und zweite-Klasse-Verkehr-Ecke rauskommen. Mehr Busse und Bahnen reicht nicht. Neue Verkehrsmittel und Nutzungsarten müssen nicht als lästige Konkurrenz betrachtet werden, sondern zur ureigenen Domäne des öffentlichen Verkehrs werden. Und datenbasierte Technologien können dabei eine entscheidende Rolle spielen.
Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Analyse und Kritik des digitalen Kapitalismus. Derzeit beschäftigt er sich mit dem Siegeszug von Algorithmen und Daten im Verkehr sowie Methoden agilen Managements. Er ist Gastwissenschaftler der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung.