Warum ist mit dem ÖPNV, wie wir ihn kennen, keine Verkehrswende zu machen? Er ist nicht kundenorientiert, sogar diskriminierend, nur auf den ersten Blick ökologisch vorteilhaft, und vor allem mit Blick auf die Zukunft nicht skalierbar, tritt auf der Stelle. Die Krise des ÖPNV ist durch Corona noch deutlicher geworden, er ist dringend reformbedürftig.
Meine Tante wohnt in Karlsruhe Durlach, einem ehemals dörflichen Viertel mit einer guten öffentlichen Verkehrsanbindung — Karlsruhe ist ja mit seinen Straßenbahnen, die auch Bundesbahntrassen benutzen können, ein Vorbild. Die betagte Dame, die seit einem Schlaganfall auf eine Gehhilfe angewiesen ist und nicht mehr Auto fahren kann, erledigt ihre alltäglichen Besorgungen zu Fuß. Darüber hinaus wäre sie eigentlich prädestiniert als Nutzerin des ÖPNV, könnte man meinen. Weit gefehlt. Die nächsten Bus- und Straßenbahnhaltestellen sind weit weg, der Einstieg zudem nicht barrierefrei. Bleibt das Taxi, das für die Rentnerin aber viel zu teuer ist und sich auch kulturell verbietet — zu luxuriös um regelmäßig benutzt zu werden. Ihrer Schwester, die in einem kleinen Dorf lebt, geht es ähnlich: Mobilität beginnt für sie dann, wenn ihre Tochter am Wochenende mit dem Auto vorbeikommt. So wie den beiden geht es vielen alten Menschen: Der ÖPNV ist nicht in der Lage, den beiden Damen ein Angebot zu machen.
Weil der öffentliche Verkehr nicht den Anspruch hat, dies zu tun. Weil er in erster Linie fürs Pendeln zur Arbeit in den Städten und für den Transport von Schülerinnen und Schülern auf dem Land konzipiert ist. Weil er sich mit seinen 15 Prozent-Anteil am Verkehrsmix zufrieden gibt, weil ihm seine Rolle als notdürftige Grundversorgung für diejenigen, die nicht am richtigen Verkehr teilnehmen können, genügt. Weil er nichts weiter als eine schäbige Notlösung für all diejenigen ist, die sich „richtige Mobilität“ — sprich das Herumfahren mit dem eigenen PKW — nicht leisten können. Weil er keinesfalls den Anspruch hat, eine vernünftige, ökologische, günstige, nutzerfreundliche Alternative zum motorisierten Individualverkehr für die Mehrheit der hier Lebenden zu bieten.
Und selbst an den bescheidenen Aufgaben in der selbstgewählten Nische scheitert er grandios. Allein die Aufenthaltsqualität des ÖPNV ist erbärmlich, gegenüber dem Komfort im eigenen Auto liegen Welten: Zugige Haltestellen, ruppige Kontrolleure, überteuerte Preise, mal verspätete und überfüllte, mal pünktliche, dafür leere Busse usw. Die Aufenthaltsqualität soll zwar erträglich sein, aber gleichzeitig nicht zum Verweilen einladen. Teilweise ist der ÖPNV z.B. für Frauen schlicht nicht nutzbar, U-Bahn-Haltestellen bei Nacht eine Horrorvorstellung.
Das erinnert an einen anderen Bereich unserer Gesellschaft, in dem ebenfalls eine notdürftige „Grundsicherung“ vorgesehen ist, dem sogenannten Sozialstaat. Das Abstandsgebot zum Erwerbseinkommen muss gewahrt bleiben, auch bei Hartz 4 werden die „Kunden“ gleichzeitig stigmatisiert und in Armut gehalten. Keiner soll verhungern in Deutschland, aber den „Kunden“ soll es auch nicht zu wohl werden, viele werden abgeschreckt. Daher meine These, dass der ÖPNV, wie wir ihn kennen, das Hartz IV der Mobilität ist — eine unwirtliche, stigmatisierende Notversorgung für diejenigen, die beim Verkehrs erster Klasse außen vor bleiben, für die Armen, Alten, Randgruppen — für die gibt es zweitklassige Mobilität.
Woran liegt das? Das liegt an der Vorherrschaft des Autos, klarer Fall. Aber der ÖPNV ist selbst nicht ganz unschuldig an dieser desolaten Situation. Hat er sich doch in seiner Nische eingerichtet, verwaltet den Mangel und wehrt sich stur gegen jegliche Innovationen und Verbesserungen. Die Betreiber des ÖPNV definieren ihren Job nicht als Mobilitätsdienstleister, sondern als Bereitsteller von Gefäßen, so der Jargon. Das ist wie beim Bund: Gulaschkanone statt Restaurant. Jede Stunde fährt der Bus (das Gefäß) nach Fahrplan (Bereitstellung), kassiert wird beim Land oder der Kommune. Ob jemand mit dem Bus fährt oder nicht, ob die Leute sich wohlfühlen, ob sie gut umsteigen können auf andere Verkehrsmittel, egal!
In Deutschland gibt es allein 150 Verkehrsverbünde, alle mit eigenen Tarifen, Standards, Verwaltung, Posten, Fahrplänen. Wenn sich deren Manager treffen, etwa um Gefäße zu bestellen, kommen alle standesgemäß mit dem Auto. Der ÖPNV ist aus ihrer Sicht sowas wie die Tafeln — ein Sozialbusiness für Randgruppen. Innovationen gehören nicht zu ihren Aufgaben, sie sind für die Grundversorgung zuständig. Der renommierte Verkehrswissenschaftler von der University of California, Dan Sperling beklagt denn auch, in 50 Jahren habe es keine Innovation auf Systemebene beim öffentlichen Verkehr gegeben.
Kritik am und Überwindung des Primats von MIV dürfte ein Grundkonsens in der Bewegung für eine Verkehrswende darstellen: Reduktion der PKW um die Hälfte, kleine, langlebige E-Autos, autofreie Städte, das Erreichen klimaneutralen Verkehrs bis 2035 — so in etwa ließe sich dieser breite Konsens skizzieren. Auch klar: Wenn das Auto zurückgedrängt würde, würde allein dadurch der ÖPNV deutlich besser sein, Busse nicht mehr im Stau stehen und dergleichen.
Eine Verdoppelung des Verkehrsaufkommens im ÖPNV bis 2035 sieht eine aktuelle Studie von Agora Verkehrswende („klimaneutrales Deutschland“) für notwendig an, um die Klimaziele zu erreichen. Dieser Anstieg ist mit dem ÖPNV, wie wir ihn kennen, nicht zu schaffen, der Trend zeigt in die Gegenrichtung: Lag der Anteil des ÖPNV am Verkehrsmix vor der Pandemie schon bei schlappen 15 Prozent, hat er sich seither noch einmal halbiert, wie einer Analyse von Franziska Zehl zu entnehmen ist, die im Projekt MOBICOR die Auswirkungen der Corona-Pandemie untersucht. Daher kann der ÖPNV nicht einfach so weiter machen.
Sicher! Meinetwegen. Ich bin auch dafür, dass die Hartz 4-Sätze erhöht werden. Aber ein schlüssiges Konzept für nachhaltige Mobilität ist das nicht. Wenn statt stündlich ein leerer Bus bald halbstündlich ein leerer Bus fährt — das ist nicht Verkehrswende. Meine These ist, dass der ÖPNV Teil des Problems ist und nicht Teil der Lösung. Statt notdürftiger Grundversorgung für die Armen, Alten und all diejenigen, die nicht am „richtigen“ — sprich privaten motorisierten Individualverkehr teilnehmen können, muss der öffentliche Verkehr zu einer attraktiven bevorzugten Option für die Mehrheit werden. Der ÖPNV, den wir heute haben, gehört abgeschafft bzw. gründlich reformiert. Mehr Busse und Bahnen wird das Primat des Autos nicht besiegen, und meine beiden Tanten stehen immer noch im Regen.
Im zweiten Teil wird skizziert wie ein ÖPNV 2.0 aussehen könnte und welche Rolle digitale Technik dabei spielen können.
Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Analyse und Kritik des digitalen Kapitalismus. Derzeit beschäftigt er sich mit dem Siegeszug von Algorithmen und Daten im Verkehr sowie Methoden agilen Managements. Er ist Gastwissenschaftler der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung.