Mobilitätsplattformen sind in der städtischen Mobilität gerade in aller Munde. Doch wohin führt uns die aktuelle Politik vieler Städte und Kommunen? Gerade wenn Digitalisierung ausschließlich als Fortschritt verstanden wird ohne die Auswirkungen kritisch und demokratisch zu diskutieren, finden wir uns am Ende in einer Sackgasse wieder. Eine Geschichte aus einer fiktiven Stadt: Alle Darstellungen in diesem Text sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit der Realität sind rein zufällig.

Lena ist 23 Jahre alt und studiert Informatik in Überberg. Um ihr Studium zu finanzieren, jobbt sie bei der Initiative „Senior*innen ans Netz“, die ältere Menschen an die Digitalisierung heranführen will. Lena arbeitet gerne bei der Initiative, obwohl sie den Namen etwas stigmatisierend findet. „Gut die Hälfte der Über-70-Jährigen benutzen schon längst PC und SmartPhone“, sagt sie. Bei denjenigen Senior*innen, die jedoch ihre Unterstützung wünschen, versucht sie an deren Alltagsinteressen anzuknüpfen. Kommunikation mit Freund*innen und Familie steht fast immer an erster Stelle. Auch lokale Informationen sind vielen wichtig, vor allem seit vor einem Jahr die letzte Lokalzeitung, das Überberger Tageblatt, eingestellt wurde. Viele freuen sich auch, wenn sie sehen, dass es Apps gibt, die ihre Hobbys unterstützen.

Private Plattformen statt ÖPNV

Ein Thema, das immer wieder auftaucht, ist Mobilität. Günther erzählt Lena beispielsweise, dass sein Enkel in Berlin lebt und sich kaum vom Fleck bewegt, ohne vorher eine App zu Rate zu ziehen. Er findet das zwar etwas übertrieben, sagt aber auch, dass es da schon tolle Sachen gibt, die man damit machen kann. Lena zeigt Günther die App Überberg.Unterwegs. Günther erwähnt, dass es in Außenbezirken von Berlin die Möglichkeit gibt, Sammeltaxis oder Rufbusse über die App zu bestellen, um zur nächsten S-Bahn-Haltestelle gebracht zu werden. Lena probiert das mit Überberg.Unterwegs. Rufbusse und Sammeltaxis werden nicht angeboten, dafür aber eine Uber-Fahrt ins Geschäftsgebiet von Share Now, dem Carsharing-Angebot von BMW und Daimler. Uber will Günther nicht bestellen, weil „mir deren Geschäftspraktiken nicht ganz geheuer sind“. Lieber würde er ein „normales Taxi“ bestellen. Lena ruft in Überberg.Unterwegs den Menüpunkt Taxiruf auf. Sie landet auf einer Seite, die wie die Seite einer Taxizentrale aussieht. Nach Eingabe von ein paar Parametern versucht sie, ein Taxi zu bestellen. Sie staunt nicht schlecht als ihr auch hier nur Uber-Fahrten angeboten werden. Günther schüttelt den Kopf und sagt „dann gehe ich halt zu Fuß zur S-Bahn-Haltestelle“. Vorher will er aber noch den Fahrplan prüfen. Lena sucht in der App nach Fahrplanauskünften, findet aber nichts zum ÖPNV. Der kommt in der App nicht vor.

Nun versucht sie, den Fahrplan einfach online zu suchen. Die ersten acht Suchergebnisse verweisen alle auf Unterseiten von Überberg.Unterwegs, die jedoch alle nichts mit einer Fahrplanauskunft zu tun haben. Schließlich findet sie einen Verweis auf die Überberg21 GmbH, in die die Überberger Verkehrsbetriebe (ÜVB) vor einem Jahr ausgegliedert wurden. Unter dem Menüpunkt Fahrplanauskunft werden alle 34 Linien der ÜVB aufgelistet und hinter jedem Eintrag kann ein Download-Button angeklickt werden. Die Digitalisierung der Fahrplanauskunft besteht darin, dass bisherige Druckerzeugnisse jetzt auch als PDF heruntergeladen werden können. Nicht nur Lena ist fassungslos. Günther ergänzt noch, dass er schon länger die gedruckten Fahrpläne nicht mehr bestellt hat. „Die sind so kleingedruckt, dass ich sie mit meinen schlechter werdenden Augen nicht mehr lesen kann. Und die PDFs sind derselbe Mist in grün.“

Die Illusionen der digitalisierten Privatisierung

Lena und Günther beschließen, den Merkwürdigkeiten des Überberger Verkehrssystems auf den Grund zu gehen. Sie kontaktieren die freie Journalistin und Klimaaktivistin Amira, die in einer der letzten Ausgaben des Überberger Tageblatt vor diesen Entwicklungen gewarnt hat. Amira erklärt den beiden, dass das ganze Schlamassel mit der Bürgermeisterwahl vor drei Jahren anfing. Der Kandidat der Partei für Fachkompetenz.Digitalisierung.Privateigentum gewann überraschend die Wahl mit dem Versprechen, „Überberg ins 21. Jahrhundert zu bringen“. Nach der Wahl wurde die Ausgliederung der ÜVB in eine GmbH forciert, um sie später privatisieren zu können. Amira erzählt, dass dies fast reibungslos vonstatten ging. Es gab zwar einige Proteste von Mitarbeiter*innen der ÜVB, aber am Ende wurde eine Mehrheit im Stadtrat von der Aussage, dass der ÖPNV in Überberg dadurch „moderner, effizienter und bedarfsgerechter“ werden würde, überzeugt. Heute, zwei Jahre später, klagen die Mitarbeiter*innen über verschlechterte Arbeitsbedingungen und die Passagier*innen über schlechteren Service. Die IT-Abteilung der ÜVB wurde aufgelöst. Laut Amira spielt der ÖPNV keine Rolle im Verkehrskonzept des Bürgermeisters und wird von ihm „stiefmütterlich behandelt“.

Sein ganzer Enthusiasmus gilt der Digitalisierung der Mobilität, um Überberg „fit fürs 21. Jahrhundert“ zu machen. Dabei setzt er insbesondere auf die „Kompetenz des Privatsektors“. In einer Public-Private-Partnership zwischen der Stadt Überberg, Share Now und Uber wurde die Mobilitätsplattform Überberg.Unterwegs gegründet. Die meisten Kosten tragen Share Now und Uber. Dafür erhalten sie für ihre Dienste exklusiven Zugang zur Plattform. Konkurrierende Dienste wie ÖPNV oder Taxis haben keinen Zugang zur Plattform. Die Rolle der Stadt ist hauptsächlich, die Plattform unter ihrem offiziellen Logo zu vermarkten. Für Überberg.Unterwegs wurden erfolgreich Mittel aus Förderprogrammen der EU und des Bundes zur Digitalisierung der Mobilität beantragt. Die Gesamtsumme der Förderung betrug am Ende 15 Mio. Euro, die laut Überberg.Unterwegs hauptsächlich in die „komplexe Softwareentwicklung“ gesteckt wurde. Die Software-Lieferantin war und ist die New Mobility Software GmbH, einem Joint Venture von SAP, T-Systems und Bosch. Sie hat ähnliche Projekte schon in mehreren anderen Städten realisiert.

Die Förderrichtlinien fordern vage Bürgerbeteiligung bei der Antragsstellung. Da sich mittlerweile auch Überberg im ersten Corona-Lockdown befand, wurde eine 90-minütige „Digitale Bürgerwerkstatt“ organisiert. Das Programm begann mit einem Grußwort des Bürgermeisters und der Verkehrsdezernentin, die der gleichen Partei angehört wie der Bürgermeister. Dann gab es Präsentationen jeweils von Share Now und Uber. Als „Vertreterin der Zivilgesellschaft“ sprach eine Überberger Unternehmerin, die ihr „ganzes Leben in Überberg verbracht“ hat und „hier geboren wurde“. Ihre Präsentation bestand im wesentlichen aus einer Vorstellung ihrer Webentwicklungs-Firma, die einen Großteil der kommunalen Webseiten betreut und auch die Bedienoberfläche von Überberg.Unterwegs entwickeln soll. Die Moderation übernahm eine Mitarbeiterin des Bürgermeisters aus dem Rathaus. Anschließend gab es zwei 20-minütige Runden in Kleingruppen, in denen die Teilnehmenden Fragen stellen konnten. Die meisten Wortmeldungen wünschten sich zusätzliche Informationen. Ein kritischer Kommentar kam von einem öko-bewegten Überberger, der meinte, „das Ganze sieht nach einem exklusiven Club zur Förderung der Interessen von BMW, Daimler und Uber aus“. Er wurde von der Moderatorin mit dem Argument abgekanzelt, seine Technikfeindlichkeit sei „ja typisch für die Umweltbewegung“.

Die Fortschrittsversprechen der Marktliberalen

Amira erzählt Lena und Günther noch, dass sie selber in der zweiten Runde die Frage stellte, warum eigentlich die Softwareentwicklung 15 Mio. Euro kostet, wenn die New Mobility Software GmbH die Lösung aus anderen Projekten schon schlüsselfertig zur Verfügung hat. Der Moderator, ein Mitarbeiter der Verkehrsdezernentin, belehrte Amira, dass man diese Frage den Software-Experten überlassen sollte. Als die Informatikstudentin Lena das hört, kann sie sich vor Lachen kaum noch halten. Günther meint noch, das Ganze sehe nach einer Simulation von Bürgerbeteiligung aus.

Amira berichtet noch, dass die Debatte und Abstimmung im Stadtrat ähnlich geräuschlos vonstatten verlief wie die Bürgerwerkstatt. Mit wenigen Gegenstimmen wurde der Antrag zur Gründung von Überberg.Unterwegs angenommen. Die meisten Mitglieder wollten nicht als „Blockierer*in des Fortschritts“ dastehen.

Im zweiten Teil wird erzählt, was Lena, Günther und Amira gegen die digitalisierte Privatisierung der Mobilität unternehmen werden.

Mark Herterich ist Informatiker und engagiert sich bei Attac. Er beschäftigt sich mit nachhaltiger Software, Postwachstum und öffentlichen Mobilitätsplattformen. Zudem ist er aktiv bei der Kampagne „einfach.umsteigen“.